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Corona-Lockerungen in den Ländern – späte Erkenntnis des Bundes

Der Bund hat am 6. Mai 2020 die Entscheidung über Corona-Lockerungen weitestgehend  in die Verantwortung der Länder gelegt. Eine späte Einsicht, aber besser als keine. Hintergrund ist die Diskussion und die Forderung nach den Lockerungen der Corona-Maßnahmen. Die Verbände, und nicht zuletzt der BDI-Präsident Kempf, fordern seit Wochen von der Politik Lockerungen und verweisen auf die erheblichen wirtschaftlichen und sozialen Schäden für das Land. Auch in der Bevölkerung kippt die Stimmung. Umfragen bestätigen, dass die Akzeptanz einzelner Maßnahmen schwindet, wenn deren Sinnhaftigkeit nicht mehr erkennbar ist. Wie stark die wirtschaftlichen und sozialen Verwerfungen ausfallen, wird sich erst in Monaten herausstellen. Im Euro-Raum ist mit einem massiven Einbruch der Konjunktur zu rechnen.

Jene, die sich im Hinblick auf diese Folgen für Lockerung der Freiheitsbeschränkungen ausgesprochen und gehandelt haben, wie beispielsweise der Ministerpräsident des Landes Sachsen-Anhalt, Reiner Haseloff, sahen sich öffentlicher und medialer Kritik ausgesetzt. Der Berliner Bürgermeister Michael Müller warf seinem Amtskollegen im Deutschlandfunk – fast beleidigt – das Fehlen eines koordinierten und abgestimmten Verhaltens vor. Ebenso äußerte sich der Ministerpräsident des Landes Schleswig-Holstein, Daniel Günther, der das Vorpreschen anderer Länder rügte. Von einem Ausscheren aus der gemeinsamen Linie und von einem Überbietungswettbewerb wurde gewarnt. Die Kanzlerin warnte gar, die Debatte dürfe nicht zu Öffnungsorgien führen.

Offenkundig gehen die politisch Handelnden davon aus, dass nur in der Einheitlichkeit politischer Entscheidungsträger die richtigen Fragen gestellt und die richtigen Antworten gefunden werden. Dass ein Abweichen von dieser Linie das Vertrauen der Bürger ins Krisenmanagement der Politik schwindet oder gar verlorengeht. Es wird unterstellt, dass die Bevölkerung Leitplanken benötigt, an denen sich die Bürger orientieren müssen. Woher kommt das Misstrauen, dass die Bürger in Corona-Zeiten nicht selbstverantwortlich handeln. Braucht der Bürger einen Vormund und Leitplanken, an denen er sich orientieren kann. Muss man den Bürger vor einem Flickenteppich unterschiedlicher Regelungen in den Ländern schützen. Wie kommen die politisch Handelnden darauf, dass trotz unterschiedlicher Infektionslagen in den Ländern, in den Städten, Kreisen und Gemeinden, alles einheitlich in Bund und Land entschieden werden muss. Die lokalen Verantwortlichen quasi entmündigt werden. Woher nehmen die Handelnden die Gewissheit und Weisheit, dass nur einheitliche zentrale Regelungen zum Wohl aller führen. Worin liegt der Wert, wenn alle im Gleichschritt  handeln. Zweifellos war in den ersten Wochen der Corona-Pandemie der Shutdown gefordert. Die Ungewissheit über das Ausmaß der Corona-Pandemie und die Bedrohung für die Menschen erzwang förmlich eine einheitliche zentrale Entscheidung des Bundes. Es gab kein Drehbuch, das die politisch Handelnden nur abarbeiten mussten. Sie handelten letztlich nach dem Prinzip „trial and error“.

Der Ausstieg aus den Freiheitsbeschränkungen verlangt von den politisch Handelnden in Bund und Land jedoch Mut zur Entscheidung. Wer im Bund die Lage betrachtet, sieht die großen Linien, verliert aber den Blick für das Detail. Die Menschen in den Ländern, Städten, Kreisen und Gemeinden, die von den Entscheidungen unmittelbar betroffen sind, sehen vieles differenzierter. Verlangen nach nachvollziehbaren Lösungen. Es fehlt den Vertretern einheitlicher Entscheidungen offenkundig an Mut, sich vom Mainstream abzusetzen. Es ist natürlich einfach, im Geleitzug zu fahren und die Mühen der Ebene zu scheuen. Wenn der Kanzleramtschef, Helge Braun, in der Welt am Sonntag erklärt, dass er nicht verstehe, wenn von den Gerichten einzelne Maßnahmen der Politik aufgehoben oder modifiziert werden, und dass es beim Öffnen des Alltagslebens nicht eine absolute Gleichbehandlung aller gesellschaftlichen Bereiche geben kann, hat er offensichtlich nicht verstanden, dass die politisch Handelnden jeden Eingriff in den Freiheitsentzug der Bürger begründen müssen und nicht die Bürger ihre Freiheitsrechte.

Schon das vereinbarte Procedere, dass 16 Ministerpräsidenten der Länder – in einem 14- oder 6-tägigen Rhythmus – gemeinsam mit der Kanzlerin über Lockerungen verhandeln und dann ein einheitlicher Beschluss gefasst wird, zeigt, dass angesichts der Vielzahl und Vielschichtigkeit der Themen, die auf der Agenda stehen, zeitnahe, den Erfordernissen lokaler Besonderheiten angepasster Lösungen auf dem Weg zentraler Entscheidungsfindung nicht gefunden werden können. Wozu bedarf es eines gemeinsamen Beschlusses von Bund und Land über die Öffnung der Gastronomie, der Begrenzung der Verkaufsflächen, der Schulen, der Kitas, der Sportanlagen, der Kontaktsperre, wenn die Ausgangslagen in den Ländern so unterschiedlich sind.

Der Gleichheitssatz des Grundgesetzes verlangt, Gleiches gleich und Ungleiches ungleich zu behandeln. Offenkundig haben einige Ministerpräsidenten das verstanden, so hat Niedersachsen einen Fünf-Stufen-Plan vorgelegt. Auch der bayerische Ministerpräsident, Markus Söder, der gestern noch vor einem Vorpreschen gewarnt hat, legte einen Ausstiegsplan vor und begründete dies mit der Unterschiedlichkeit der Infektionslagen in seinem Bundesland. Die Länder Schleswig-Holstein und Mecklenburg-Vorpommern haben ebenfalls Lockerungen angekündigt. Die Bürger wollen nicht darauf warten, bis die Bundeskanzlerin, die dafür bekannt ist, eher in „Trippelschritten“ entscheiden zu wollen, sich mit den 16 Ministerpräsidenten auf eine einheitliche Lösung verständigt. Ein Unterfangen, wie die Realität zeigt, dem kaum eine realistische Chance eingeräumt werden kann.

Alle freiheitsbeschränkenden Maßnahmen bedürfen der Begründung. Der Eingriff in die Grundrechte mag zu Beginn der Pandemie verhältnismäßig gewesen sein. Doch mit zunehmender Dauer müssen die Eingriffe auf ihre Verhältnismäßigkeit kontinuierlich überprüft werden. Dies gilt gleichermaßen für die korrespondierenden strengen Hygiene- und Schutzmaßnahmen. Auch diese Maßnahmen müssen neben ihrer Eignung erforderlich und verhältnismäßig sein. Die Maßnahmen dürfen dem Bürger nicht willkürlich und sinnlos erscheinen. Es darf sich der Eindruck nicht aufdrängen, dass die vorgesehen Maßnahmen extrem überzogen sind und Zweifel an der Erforderlichkeit bestehen. Das Verwaltungsgericht in Jena hat aufgrund der geringen Corona-Infektionszahlen in Jena und der Stellungnahme des Robert-Kochs-Institut, dass Abstand halten genüge, in einem Eilverfahren entschieden, dass Schüler im Unterricht keinen Mund- und Nasenschutz tragen müssen. Der baden-württembergische Verwaltungsgerichtshof hat die Begrenzung der Verkaufsfläche auf 800 Quadratmeter mit der Begründung gekippt, dass der Handel mit Kraftfahrzeugen, Fahrrädern und Büchern bevorzugt werde. Man mag die einzelnen Entscheidungen der Gerichte für richtig oder falsch bewerten. Dennoch, die Bürger werden die Sinnhaftigkeit einzelner Maßnahmen zunehmend hinterfragen und gerichtlich überprüfen lassen, da sie persönlich betroffen und – bei zu hohen Auflagen – in ihrer wirtschaftlichen Existenz akut bedroht sind.

Eine zweite Pandemie kann niemand ausschließen. Mit diesem Risiko müssen wir leben. Der Bundestagpräsident Wolfgang Schäuble hat insoweit eine interessante Diskussion angestoßen. In einem Interview mit dem Tagesspiegel äußerte er, dass manche meinten, angesichts der Pandemie habe hinter dem Schutz des Lebens alles andere zurückzutreten. Passend mag auch ein Zitat des amerikanischen Politikers und Erfinders, Benjamin Franklin, einer der Gründervater der Vereinigten Staaten von Amerika, sein, nicht zu verwechseln mit dem amerikanischen Präsidenten Franklin D. Roosevelt, das da lautet: wer die Freiheit aufgibt, um Sicherheit zu gewinnen, wird am Ende beides verlieren.

Rechtsanwalt Dr. Dietmar Buchholz, Hamburg

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